Von Michael Springer
Die Aufhebung der „Epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ öffnete Wege und Mittel, die Bekämpfung der Corona-Pandemie aus dem alleinigen steuernden Verordnungsrecht des Bundesgesundheitsministeriums heraus zu nehmen und auf viel breitere Zuständigkeiten und Verantwortungsstrukturen zu stellen.
Die Bekämpfung der SARS-CoV-2-Pandemie kann nun auch mit den Experte und Methoden aus Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin auf eine neue wissenschaftlich-anwendungstechnische Grundlage gestellt werden.
Seit der Aufhebung der vom Bundestag festgestellten „Epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ November 2021 (mit Wirkung ab 24.11.2021) gelten für einen befristeten Zeitraum neue Anforderungen an den Arbeitsschutz im Hinblick auf SARS-CoV-2.
Neues Paradigma: Vermeidung ansteckungswirksamer Kontakte
Die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) eröffnet damit zugleich einen volkswirtschaftlich sehr bedeutsamen „paradigmatischen Ansatz“ für einen großen Strategiewechsel in der Pandemiebekämpfung:
- anstelle von methodisch unsicheren Modellrechnungen der Infektiologen, mit prognostizierten übertragungswirksamen Kontakten, die Inzidenzen und Risiken erkennen lassen,
- treten nun physikalische und arbeitsmedizinische Erkenntnisse zur „effektiven Vermeidung von Ansteckung“ und „Begrenzung übertragungswirksamer Kontakte.“
Mit der Aufhebung der „Epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ wurde das faktische und rechtswirksame Primat der „Infektiologie“ beendet.
Die SARS-CoV-2-Arbeitsschutzregeln
Die SARS-CoV-2-Arbeitsschutzregel wurde unter Koordination der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) gemeinsam von den Arbeitsschutzausschüssen beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) bereits im Jahr 2020 erstellt. Sie trat am 20.08.2020 durch Veröffentlichung im Gemeinsamen Ministerialblatt in Kraft.
Inzwischen wurde im November 2021die Dritte Änderung der SARS-CoV-2-Arbeitsschutzregel in Kraft gesetzt.
Die dritte bekanntgegebene Aktualisierung der SARS-CoV-2-Arbeitsschutzregel (GMBl 61/2021 vom 24.11.2021, S. 1331-1332) stellt auf den befristeten Zeitraum nach Aufhebung der epidemischen Lage von nationaler Tragweite ab und bezieht sich zusätzlich auf die Berücksichtigung des Impf-, Sero- und Teststatus der Beschäftigten bei der Konkretisierung der Anforderungen des betrieblichen Infektionsschutzes.
Die SARS-CoV-2-Arbeitsschutzverordnung (Corona-ArbSchV) mit ihren grundlegenden Arbeitsschutzregeln gilt bis einschließlich 19. März 2022 und wurde entsprechend verlängert. Der aktuelle gültige Rechtstext der SARS-CoV-2-Arbeitsschutzverordnung (Corona-ArbSchV) liegt als PDF-Dokument vor.
Die SARS-CoV-2-Arbeitsschutzverordnung, SARS-CoV-2-Arbeitsschutzregel und die Handlungsempfehlungen der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin greifen ineinander und ergänzen sich.
Infektionsschutzgerechtes Lüften
Eine wichtige Ergänzung zu der SARS-CoV-2-Arbeitsschutzregel sind die in Aufsatzform verfaßte Konkretisierungen von ANNINA GRITZKI/KERSTEN BUX zum Thema Infektionsschutzgerechtes Lüften.
Neben der Einhaltung von Mindestabständen, Hygienemaßnahmen und ggf. der Benutzung von Atemschutzmasken ist die sachgerechte Lüftung von Innenräumen eines der wichtigsten Instrumente des betrieblichen Infektionsschutzes (AHA+L). Mit der im Februar 2021 bekanntgegebenen Änderung der SARS-CoV-2-Arbeitsschutzregel (GMBl. vom 22.2.2021, S. 227-232) werden diese Regelungen nunmehr auf Grundlage aktueller Erkenntnisse und aggregierten Expertenwissens angepasst und präzisiert.
Diese Regeln sind als Stand der Technik und der Richtlinien zu betrachten, und „rechtspflichtig“ auch von allen Arbeitgebern anzuwenden und umzusetzen. Die Anwendungspraxis bei Kitaträgern, Schulen, Fachhochschulen und Hochschulen muss sich auf die SARS-CoV-2-Arbeitsschutzregel und die Handlungsempfehlungen der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin beziehen und abstützen.
Die in Berlin in Gang gekommene Praxis, jeweils für Schulen, Kitas und Hochschulen eigene Hausregeln aufzustellen, führt in ein Regelungs- und Beschaffungschaos hinein!
Bewegungsfreiheit – wirtschaftliche Entfaltung versus Vermeidung „ansteckungswirksamer Kontakte“
Arbeitsschutzregel und Hygienemaßnahmen erlauben konkret „schutzgutbezogene“ und „übertragungspfadbezogene“ Gefährdungs- und Risikoanalysen, die von Experten vor Ort abgeglichen, überprüft und verantwortet werden können.
Das bedeutet auch: die Entscheidungen über „allgemeine Kontaktbeschränkungen“ sind künftig auf „fallbezogene und typische Methoden zur Vermeidung „ansteckungswirksamer Kontakte“ im Rahmen üblicher Fachverfahren umzusteuern.
Im Kontext von Lüftung und Raumklima in Innenräumen müssen die Sicherheit und Gesundheit der Beschäftigten neben dem Infektionsschutz auch weitere Schutzziele berücksichtgen, die mittelbar Ansteckungsriskiken minimieren. Dazu gehören die Technischen Regeln für Arbeitsstätten
- ASR A3.6 Lüftung (z. B. Vermeidung von Zugluft),
- ASR A3.5 Raumtemperatur (z. B. Einhaltung gesundheitlich zuträglicher Raumtemperaturen und Luftfeuchtigkeit)
- ASR A3.7 Lärm (z. B. Vermeidung von Hintergrundgeräuschen).
Im Hinblick auf Lufthygiene und Infektionsschutz muß auch dem Thema Luftfeuchtigkeit mehr Beachtung geschenkt werden, denn eine Austrocknung von Schleimhäuten in Nase, Mund und Atemwegen begünstigt jewede Infektion.
SARS-CoV-2-Variante Omikron: Übertragung und Ansteckung vermeiden
„Omikron zeichnet sich durch eine stark gesteigerte Übertragbarkeit und ein Unterlaufen eines bestehenden Immunschutzes aus“, heißt es in einer Stellungnahme des Corona-Expertenrats der Bundesregierung vom 19.12.2021. Daher seien auch Geimpfte und Genesene stark in das Infektionsgeschehen involviert. In Deutschland sei damit zu rechnen, dass sich die Infektionen mit der Omikron-Variante etwa alle zwei bis vier Tage verdoppeln werden. Es könne zu einer „explosionsartigen Verbreitung“ kommen.
Ob sich die SARS-CoV-2-Variante Omikron dabei auch bei geringer Viruslast schneller auf der Schleimhaut vermehrt und in die Blutbahn und das Zellgewebe eindringt, ist vom Corona-Expertenrat noch nicht beantwortet.
Diese Feststellungen sorgen für verbreitete Angst und Panik, sind aber wissenschaftlich nur auf die vorliegenden biomedizinischen Erkenntnisse der Infektiologie und Infektionsbiologie gestützt.
Aus der Sicht von Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin ist die physikalische Übertragbarkeit der SARS-CoV-2-Variante Omikron auf dem Luftpfad (Aerosole) nicht messbar höher, als bei anderen Viren.
Die Beachtung der Handlungsempfehlungen der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin ist daher der weiterhin gültige Weg, um Ansteckungen zu vermeiden (bzw. zu vermindern).
Das Unterlaufen des Immunschutzes legt aber eine andere Schlußfolgerung nahe: die Maskenpflicht muss einheitlich gehandhabt werden, und im Sinne einer vorsorgenden Risikoabwägung sind auch „Geimpfte Personen“ in die Schutzkonzepte einzubeziehen, um das Unterlaufen von Schutzmaßnahmen und die Weiterverbreitung zu vermeiden.
Krisenkommunikation und Risikobewertung
Die Krisenkommunikation vieler Akteure und politischen Verantwortungsträger ist inzwischen selbst zu einem unkalkulierbaren wirtschaftlichen und gesundheitliche Risiko geworden, obwohl es einen lange anerkannten Standard in der WHO-Krisenkommuniktion gibt.
„Gute und ethische Risikokommunikation im Bereich Gesundheit macht eine Reihe von Prinzipien erforderlich: qualitativ hochwertige wissenschaftliche Gutachten, eine vollkommene Auswertung der Risiken und des Nutzens, ein widerspruchsfreier Ansatz der Gesundheitsrisikenabschätzung über verschiedene Bereiche hinweg, einen klaren Rahmen für Interventionen, Integrität, eine realistische Offenbarung von Unsicherheiten und eine größere Beteiligung der Öffentlichkeit an den Erörterungen von Gesundheitsrisiken.“ ( Jakobowski/Charpak: Sechstes Zukunftsforum zum Thema Krisenkommunikation, Reykjavik, Island, 10.–11. Mai 2004, S.24).
Die Bundesregierung und der Deutsche Bundestag sind daher in der Pflicht, angesichts der aktuellen Aussagen des Corona-Expertenrats der Bundesregierung vom 19.12.2021 eine Supervison des zuständigen Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) zu veranlassen, das in Fachaufsicht des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) steht. Bisher wird das BfR mit seiner Expertise nur unzureichend eingebunden und gefordert, obwohl auch dort langjährige Erkenntnisse zu SARS-Viren vorliegen.
Die Risikoforschung muss neben Stimmungsbildern (BfR-Corona-Monitor 21.-22.Dezember 2021) schnellstmöglich Handlungsempfehlungen erarbeiten, wie die höhere Ansteckungsgefahr der SARS-CoV-2-Variante Omikron und das Unterlaufen des Immunschutzes der Impfungen bewertet werden kann.
Weitere aktuelle Informationen:
Deutschlandfunk | Corona-Pandemie: Die Virusvariante Omikron (B.1.1.529) im Überblick